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„Koran“ bedeutet wörtlich „Lesen“ oder „das Gelesene“. Als
Mohammed (saw) ihn seinen Gläubigen diktierte, versicherte er, dass es sich
dabei um die ihm von Allah (cc) zuteil gewordene Offenbarung handle. Er hat
nicht alles auf einmal diktiert; die Offenbarungen kamen ihm bruchstückweise
und von Zeit zu Zeit, und sobald er sie erhalten hatte, gab er sie weiter. Er
verlangte von seinen Jüngern nicht nur, sie auswendig zu lernen, um sie im
öffentlichen Gottesdienst vorzutragen, sondern auch, sie niederzuschreiben und
Vervielfältigungen anzufertigen. Nach
jeder neuen Offenbarung rezitierte er sie zuerst in einer Versammlung der
Männer und dann noch einmal in einer Versammlung der Frauen. Dies berichtet Ibn
Is'haq (ra). Danach beschränkte er sich nicht nur darauf, diese Botschaft einem
seiner Schreiber zu diktieren, sondern befahl diesem zum Schluss auch
vorzulesen, was er niedergeschrieben hatte, um etwaige Fehler, die der
Schreiber gemacht hatte, korrigieren zu können. Nach jeder Offenbarung
bestimmte er außerdem die Stelle, die dieser neue Wortlaut im Gefüge des Ganzen
einnehmen solle; er wünschte keine mechanisch-chronologische Einteilung. Diese
Sorge um die Bewahrung des Wortlautes kann man nie genug bewundern, wenn man an
das kulturelle Niveau der Araber von damals denkt.
Vernünftigerweise muss angenommen werden, dass die allerersten Offenbarungen,
die der Prophet erhalten hatte, nicht sofort niedergeschrieben wurden, einfach
weil es damals weder Gläubige noch Jünger gab. Außerdem waren diese Texte der
ersten Zeit weder lang noch zahlreich. Es bestand keine Gefahr, dass der
Prophet sie vergessen könne, denn er trug sie oft in seinen
Gebetsgottesdiensten und in
seinen Unterhaltungen mit den neu zu Bekehrenden vor.
Verschiedene geschichtliche Tatsachen geben uns
Rechenschaft über das, was geschah: Omar (ra) gilt als die vierzigste Person,
die den Islam angenommen hatte; das war im Jahre 8 vor der Hidschra (Jahr 5 der
Sendung). Schon in dieser frühen Zeit gab es eine schriftliche Zusammenfassung
des Wortlautes verschiedener Suren (Kapitel) des Korans; wie uns Ibn Hischam
(ra) erzählt, wurde Omar (ra) durch die Lektüre einer dieser Schriften
überzeugt, so dass er zum Islam übertrat.
Wie lange damals
schon die Gewohnheit des Niederschreibens der Offenbarung bestand, lässt
sich nicht genau angeben, aber zweifellos wuchs die Zahl der Muslime ebenso wie
die Zahl der Abschriften des heiligen Textes in den letzten achtzehn
Lebensjahren des Propheten (saw) immer mehr an. Mohammed (saw) erhielt diese
Offenbarungen in Bruchstücken. Es ist durchaus natürlich, dass der geoffenbarte
Wortlaut jeweils die Lösung eines zeitgemäßen Problems betraf: wenn einer
seiner Genossen starb, bedurfte es für diesen Tag einer Offenbarung über die
Erbschaft und nicht etwa über das Gesetz, das z.B. wegen der alkoholischen
Getränke oder wegen des Mordes zur Anwendung kommen sollte. Die Offenbarungen
dauerten während des ganzen missionarischen Lebens Mohammeds (saw) an: dreizehn
Jahre in Mekka und zehn Jahre in Medina. Alle Offenbarungen bestanden entweder
aus einem vollständigen längeren oder kürzeren Kapitel oder, zu anderen Malen,
nur aus einer bestimmten Anzahl von Versen.
Diese Eigenart der Offenbarung forderte vom Propheten (saw)
die ständige Rezitation vor seinen Gefährten und auch die Nachprüfung der Form,
welche die Zusammenfassung der von ihm empfangenen Offenbarungen haben musste.
Die Quellen versichern, dass „jedes Jahr im Monat Ramadan der Prophet (saw) dem
Erzengel Gabriel (as) den bisher geoffenbarten Teil des Korans vortrug, und dass
im letzten Jahre Gabriel (as) ihn zweimal wiederholen ließ, woraus der Prophet
ersah, dass er bald sterben werde“. Was auch immer die geistige Bedeutung
dieser Hilfe des Engels für den Propheten (saw) sein mag, seine Gefährten
nahmen an diesen öffentlichen Rezitationen (die „'ardah“ genannt werden) teil
und feierten die letzte Vergleichung (,,'ardah akhira“), anläßlich derer sie
ihre privaten Abschriften des Koran korrigierten. Der Prophet pflegte im
Fastenmonat Verse und Suren zu rezitieren und sie in die richtige Reihenfolge
zu bringen. Dies war notwendig wegen des ständigen Stroms neuer Offenbarungen.
Manchmal wurde ein ganzes Kapitel, eine ganze Sure, auf einmal offenbart, zu
anderen Zeiten kamen ständig nur Fragmente der gleichen Sure, und dies stellte
kein Problem dar. Anders lag der Fall jedoch, wenn verschiedene Kapitel
gleichzeitig in Fragmenten offenbart wurden („suwar dhawat al-'adad“ der
Chronisten). In diesem letzteren Falle musste man diese zwangsläufig nur
provisorisch und getrennt niederschreiben, und zwar auf Materialien, die gerade
zur Hand waren, so wie Schulterblattknochen der Kamele, Palmblätter,
Schiefersteine, Stücke von Häuten oder Pergament. Sobald ein ganzes Kapitel
offenbart worden war, klassifizierten die Schriftführer diese Aufzeichnungen („mu'allif
al-Quran“) und fertigten davon eine (endgültige) Abschrift an (s. Tir-midhi,
Ibn Hanbal, Ibn Kathîr etc.). Es ist außerdem bekannt, dass der Prophet gewohnt
war, in jeder Nacht des Fastenmonats einen zusätzlichen Gottesdienst von
außergewöhnlicher Dauer zu halten - manchmal tat er dies sogar öffentlich in Gesellschaft
seiner Gefährten- einen Gottesdienst, in dem er jede Nacht den Koran teilweise
vortrug, so dass der ganze Koran im Laufe des Monats rezitiert wurde; (ein
solcher Gottesdienst „Tarawih“ wird noch in unseren Tagen mit großer Andacht
gefeiert).
Als der Prophet (saw) der Welt Abschied genommen hatte, war
in manchen Teilen des Landes ein Aufstand im Gange, und beiden
Strafexpeditionen fielen auch eine gewisse Anzahl von solchen, die den ganzen
Koran auswendig kannten. Der Kalif Abu Bakr (ra) erkannte daraufhin sofort die
zwingende Notwendigkeit, den Koran zu kodifizieren; diese Aufgabe wurde schon
wenige Monate nach dem Tode des Propheten (saw) erfüllt, und zwar
folgendermaßen: Während seiner letzten Lebensjahre hatte der Prophet (saw) Zaid
ibn Thâbit (ra) als seinen Haupt-Schriftführer beschäftigt,
dem er die Offenbarung des Korans diktierte; der Kalif beauftragte diese
gleiche Persönlichkeit, eine Abschrift des vollständigen Textes in Form eines
Buches vorzubereiten. In Medina gab es eine große Anzahl von hafiz (so nennt
man diejenigen, welche den ganzen Koran auswendig können), unter denen sich
auch dieser Schreiber Zaid ibn Thâbit (ra) befand. Er hatte auch an der weiter
oben angeführten ,,'ardah akhirah“ teilgenommen. Der Kalif machte es ihm jedoch
zur Pflicht, zwei schriftliche Zeugnisse für jeden Vers zu finden, ehe dieser
in die endgültige Abschrift
aufgenommen wurde. Auf Verlangen des Kalifen brachten die
Einwohner von Medina ihm die in ihrem Besitz befindlichen Abschriften der
Teilstücke; die Reichen hatten sie auf Pergament oder auf Leder aufgezeichnet,
die Armen auf flachen Steinen oder gar auf zerbrochenen Scherben. Die Quellen versichern, dass
lediglich zwei Verse sich auf die schriftliche Überlieferung nur eines
einzigen Menschen stützten; der ganze Rest fand sich in mehrfachen
Aufzeichnungen nach dem direkten Diktat des Propheten (saw).
Die Abschrift, genannt Mushaf
(Gesammelte Blätter), wurde bei dem Kalifen Abu Bakr (ra) aufbewahrt; nach ihm
bei seinem Nachfolger Omar (ra). Inzwischen wurde der Unterricht des Korans
überall im muslimischen Reich gefördert. Der Kalif Omar (ra) hatte zwar bereits
die Notwendigkeit eingesehen, den verschiedenen Zentren urkundliche Abschriften
des Korans zur Verfügung zu stellen, um jede Abweichung zu vermeiden, aber erst
sein Nachfolger Othman (ra) tat dies, und zwar aus folgendem Grunde: einer
seiner Statthalter kehrte aus dem entfernten Armenien zurück und erklärte, es
gebe dort Abweichungen in den Abschriften des Korans und deshalb sogar
Streitigkeiten zwischen den Schülern verschiedener Lehrer. Othman (ra) ließ
sich unverzüglich die für Abu Bakr (ra) angefertigte Abschrift bringen und
vertraute sie einem Ausschuss an, dessen Leiter der oben genannte Zaid ibn
Thâbit (ra) war; er beauftragte diesen Ausschuss, sieben Exemplare anzufertigen
und genehmigte die Nachprüfung der Orthographie des früheren Exemplars. Dann
veranstaltete der Kalif eine Vorlesung dieser neuen Ausgabe vor den Koranlesern
der Hauptstadt und den Gefährten des Propheten (saw); als dann sandte er diese
Exemplare an die verschiedenen Zentren seines weiten Reiches und befahl, von
nun an sich einzig auf diese authentische Ausgabe zu stützen. Er ordnete auch
an, dass die Kopien, die dem offiziell festgelegten Wortlaut widersprachen,
verbrannt oder zerrissen wurden.
Es ist begreiflich, dass die großen militärischen
Eroberungen das Auftreten gewisser Heuchler nach sich zog, die aus materiellen
Gründen ihren Übertritt zum Islam sichtbar bekundeten, während sie in
Wirklichkeit ihm heimlich zu schaden trachteten. Sie konnten wohl Korantexte
anfertigen, die mit Einschiebungen gefälscht waren; und die Krokodilstränen,
die beim Befehl des Kalifen zur Zerstörung der unrichtigen Abschriften des Korans
vergossen wurden, konnten nur von solchen Heuchlern stammen.
Es ist überliefert, dass dem Propheten (saw) manchmal eine
Stelle des Koran offenbart wurde, die eine Stelle, die zuvor offenbart und dem
Volke übermittelt worden war, veränderte oder ersetzte. Daher konnten solche
Gefährten Mohammeds (saw), die den ersten Wortlaut gelernt hatten, die spätere
Berichtigung aber nicht kannten - weil sie gestorben waren oder nicht in Medina
lebten - der Nachwelt zwar authentische, aber hinfällig gewordene Dokumente
hinterlassen. Einzelne Muslime hatten außerdem das Bedürfnis und die Gewohnheit,
vom Propheten (saw) die Auslegung gewisser Ausdrücke, die im heiligen Text
gebraucht sind, zu erbitten, und trugen dann diese Deutungen auf ihren
Abschriften ein, um sie nicht zu vergessen.
Die Abschriften, die später von diesen mit Anmerkungen
versehenen Texten angefertigt wurden,
konnten gelegentlich zu einer Verschmelzung von Text und Anmerkungen
führen. Trotz des ausdrücklichen Befehls des Kalifen Othman (ra) zur
Vernichtung der ungenauen Texte befanden sich noch genug solcher Exemplare im
3. und 4. Jahrhundert der Hidschra bei den Muslimen, so dass umfangreiche
Arbeiten über „die Varianten in den Abschriften des Korans“ herausgegeben
werden konnten. Diese sind noch vorhanden, und ihr Studium zeigt, dass die
Verschiedenheiten entweder den Anmerkungen oder aber Fehlern in der
Entzifferung der alten Schrift zuzuschreiben sind, die weder Vokale noch eine
Unterscheidung der einander ähnlichen Buchstaben durch Punkte kannte (heute
unterscheiden wir sie durch ein Punktierungssystem). Es muss hinzugefügt
werden, dass die Mundarten in den arabischen Gegenden unterschiedlich waren,
und dass der Prophet (saw) den Muslimen der verschiedenen Bezirke erlaubt
hatte, den Koran nach ihrer Gewohnheit auszusprechen, ja sogar die Worte, die
ihnen unbekannt waren, durch andere, ihnen geläufigere, zu ersetzen. Das war
eine vorläufige Erleichterung. Zur Zeit des Kalifen Othman jedoch war die Lehre
sehr weit verbreitet, und es war daher wünschenswert geworden, den Mundarten -
außer der, die der Prophet (saw) gesprochen hatte - keine Einwirkung auf den
göttlichen Text mehr zu gestatten, obgleich durch sie jeweils nur ganz
unwichtige Veränderungen entstanden waren.
Die von Othman (ra) in die Provinzzentren gesandten
Abschriften des Korans sind in den nachfolgenden Jahrhunderten eine nach der
anderen allmählich verschwunden. Eine davon ist jedoch bis zum heutigen Tag in Taschkent, eine andere in Istanbul
(Topkapi Museum), und eine dritte befindet sich in der Bibliothek des lndia
Office in London. Sie stammt aus der Bibliothek der Moghul-Kaiser in Delhi. Was
die Abschrift in Taschkent angeht, so hat die russische Regierung während der
Zarenherrschaft davon eine faksimilierte Nachbildung anfertigen lassen. Dabei kann
festgestellt werden, dass zwischen dieser Urkunde und dem anderweitig
gebräuchlichen Text vollkommene Übereinstimmung besteht. Das gilt ebenso für
andere Handschriften - vollständige oder fragmentarische - die aus dem ersten
und den folgenden Jahrhunderten stammen.
Der Brauch, den koranischen Text auswendig zu lernen, geht
auf die Zeit des Propheten (saw) selbst zurück. Die Kalifen und die
Staatsoberhäupter der Muslime haben diesen Brauch stets gefördert, der durch
einen glücklichen Umstand noch bestärkt wurde. Schon in den allerersten Zeiten
hatten die Muslime nämlich die Gewohnheit, ein Werk, das veröffentlicht werden
sollte, seinem Verfasser oder einem seiner diplomierten Schüler vorlesen zu
lassen, um von ihm nach etwa erforderlichen Verbesserungen ein Glaubwürdigkeitszeugnis
für das Manuskript zu erhalten. Leser und, Rezitatoren des Korans taten das
gleiche, ja gaben sogar das Beispiel hierfür. Dieser Brauch hat sich bis in
unsere Tage erhalten und zeigt die bemerkenswerte Besonderheit, dass jeder
Lehrer in seiner Bescheinigung nicht nur bezeugt, dass die Lesung seines
Schülers korrekt sei, sondern auch, dass sie mit derjenigen, die er selber
seinerseits von seinem Lehrer erhalten hatte, übereinstimme, und dass dieser
letztere ihm versichert habe, er habe sie unverändert von seinem Lehrer
übernommen - und so zurück bis zum Propheten (saw). Der Verfasser dieser Zeilen
hat seine Koranstudien in Medina bei dem Scheich al-Qurra Hasan asch-Schâ'ir
betrieben, und das erhaltene Zeugnis versichert am Ende der Kette der Lehrer
und der Lehrer der Lehrer, dass der letzte dieser Lehrer gleichzeitig bei Othman
(ra), Ali (ra), Ibn Masud (ra), Ubaiy ibn Kaab (ra) und Zaid ibn Thabit (ra)
(die alle Gefährten des Propheten (saw) waren), studiert hat, und dass alle
genau die gleiche Lesart gelehrt haben. Millionen von Abschriften des Textes
befinden sich in aller Welt. Die Zahl der Hafiz (derer, die den gesamten Koran
auswendig können) beträgt mehrere hunderttausend. Die Feststellung, dass es zwischen
dem Gedächtnis der Hafizen und dem geschriebenen Text keinerlei Unterschied im
Wortlaut gibt, ist geradezu aufregend.
Es ist bekannt, dass die Urschrift des Korans arabisch war
und dieser gleiche Text ist noch immer in Gebrauch. Es gibt mehr oder minder
gute Übersetzungen in alle bedeutenden Sprachen der Welt zum Vorteil derer, die
nicht Arabisch können. Aber es muss unterstrichen werden, dass gerade das
arabische Original uns unversehrt erhalten geblieben ist. Man brauchte nicht,
von einer späteren Übersetzung ausgehend, ins Arabische zurückzuübersetzen.
Sprachen neigen dazu, sich nach und nach zu verändern und
werden den Menschen im Laufe der Zeit unverständlich. Das Englisch, das Chaucer
(St. 1400) gesprochen hat, wird heute von niemandem in England mehr verstanden,
außer von den Studenten, die sich auf Altenglisch spezialisiert haben.
Ähnliches gilt für alle Sprachen der Welt, alte wie moderne, Griechisch,
Lateinisch, Französisch, Deutsch, Russisch und andere. Die einzige Ausnahme ist
die arabische Schriftsprache, die sich seit mindestens 1500 Jahren nicht mehr
verändert hat, weder im Vokabular, der Grammatik, der Orthographie, noch der
Aussprache. Wenn es doch einmal eine Änderung gegeben hat, so ist dies darauf
zurückzuführen, dass früher zwei Arten des Sprachgebrauchs zu gleicher Zeit
vorkamen, von denen sich eine durchgesetzt hat, während die andere außer
Gebrauch gekommen ist. Ist es nicht eine glückliche Fügung gewesen, dass Allah
(cc) der Allmächtige für Seine ewige Botschaft eine so beständige Sprache
auserwählt hat?
Ein Text in der ursprünglichen Sprache, eine Niederschrift
unter der Leitung des Propheten (saw) selbst, eine fortdauernde Bewahrung durch
das dreifache gleichzeitige Hilfsmittel des Gedächtnisses, der Schrift und des
Studiums einer großen Zahl von Einzelnen in jeder Generation unter einem eigens
dafür geschulten Lehrer und, nicht zuletzt, das Fehlen jeglicher
Verschiedenheit in den Texten - das sind einige der bemerkenswerten Züge des
Korans, des heiligen Buches des Islam.
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